Im Gespräch mit Prof. Klaus Hurrelmann
Prof. Klaus Hurrelmann forscht seit Jahrzehnten im Bereich Gesundheits- und Bildungswissenschaften.
Er war langjähriger Gründungsdekan der ersten Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland an der Universität Bielefeld. Derzeit lehrt und forscht er als Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. In den letzten Jahren war er an mehreren wissenschaftlichen Studien zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lebenslage von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beteiligt.
Im Interview spricht er über eine moderne Didaktik für die Gesundheitsberufe und erläutert, wie bereits in der beruflichen Oberstufe der Grundstein für eine erfolgreiche Berufsausübung im Gesundheitssystem gelegt werden kann. In diesem Zusammenhang hat er auch die Neuauflage von „Mensch im Fokus I“ unter die Lupe genommen.
Herr Hurrelmann, Sie beobachten seit Jahren, wie sich die Jugendlichen in Deutschland entwickeln. Welche Bedeutung hat die berufliche Bildung Ihrer Meinung nach für eine positive Entwicklung der Jugendlichen?
Prof. Hurrelmann: Aus Jugendstudien können wir ablesen, dass junge Leute sich sehr auf die berufliche Tätigkeit freuen, aber verunsichert sind, weil sie heute sehr spät erst kommt, viele Jahre zwischen Schulabschluss und Berufseintritt noch vergehen. Zweitens sind sie verunsichert, weil es so schwierig ist, eine Übersicht zu bekommen, über die Angebote, über das, was auf einen persönlich am besten passt. Wir haben in Deutschland immerhin fast 350 Ausbildungsberufe und 20.000 Studiengänge. Entsprechend dringend ist es, dass wir die Berufsvorbereitung in der Schule angemessen machen, die Berufsorientierung betreiben – und dann, wenn es so weit ist, sehr gut strukturierte Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien haben, um die jungen Leute aus dieser Unsicherheit herauszuführen.
Wenn man sich als Jugendlicher für ein Schwerpunktfach entscheidet, schon in der Schule, welche Chancen sehen Sie darin?
Prof. Hurrelmann: Da muss man vorsichtig sein, eben weil sich der Weg von der Schule in den Beruf sehr streckt. Es ist riskant, junge Leute zu früh schon auf eine bestimmte berufliche Orientierung in der Schule festzulegen. Sogar in der Oberstufe ist es klug, erst einmal noch eine breite Orientierung anzubieten, bevor dann schrittweise eine Wahl eingeleitet wird und man sich dann schließlich als junger Mann, als junge Frau für eine ganz bestimmte Berufsrichtung entscheidet. Dieses Schritt-für-Schritt- Vorgehen ist wichtig, um die starke Verunsicherung abzubauen, die die jungen Leute haben, weil alles so vielfältig und unübersichtlich ist. Und die jungen Leute wissen, dass sich die Berufswelt auch fast jährlich verändert. Sie brauchen da eine gute Orientierung und Anleitung.
Auch die Berufe im Gesundheitssystem verändern sich, die Anforderungen steigen und werden differenzierter. Wie können Bildungsgänge der beruflichen Oberstufe dazu beitragen, diesen steigenden Anforderungen zu begegnen?
Prof. Hurrelmann: Das Gesundheitssystem entwickelt sich rasend schnell, die Anforderungen werden höher, weil breites Wissen zur Verfügung steht, weil sich durch digitale Geräte und Kanäle dieses Wissen immer weiter ausweitet, weil die Umsetzungsformen entsprechend komplexer werden. Das sollte schon in der Oberstufe vorbereitet werden.
Wie kann das geschehen?
Prof. Hurrelmann: Durch gute Lehrbücher wie dieses hier – „Mensch im Fokus“. Mit einem Konzept, das analytisch startet und das Wissen anschaulich aufbereitet. Das Theorie und Praxis verbindet und ein Lernen in Zusammenhängen trainiert. Für die Gesundheitsberufe muss man genau diesen Doppelansatz fahren. Zuerst die konkrete Veranschaulichung: So sieht es am Krankenbett aus, wenn ich als Pfleger oder als Pflegerin tätig bin, so sieht es in der Physiotherapie aus und so weiter. Richtig anschauliche Materialien gehören in die Lehrbücher hinein, verbunden aber mit Verallgemeinerungen, Abstrahierungen, Einordnungen, und dem Angebot von Transfer: Was du hier machst, das lässt sich in einen anderen Bereich transferieren, aber dafür musst du die grundlegende Idee verstehen und auf den neuen Kontext übertragen. Also immer die Kombination von sehr konkreten, anschaulichen, fassbaren Informationen, sehr gut aufbereitet, mit Einordnung in den größeren Zusammenhang. Das ist etwas, was ein gutes Lehrbuch heute auszeichnet, und das ist in diesem Buch bestens gelungen.
Sie erforschen auch die Lebenswelt von Jugendlichen und Sie beschreiben sie regelmäßig. Im Hinblick auf die Didaktik: Wie holen wir die Jugendlichen heute am besten ab?
Prof. Hurrelmann: Wenn man es so macht, wie ich es gerade angesprochen habe, dann kann man junge Leute auch besonders gut erreichen. Fallbeispiele spielen eine große Rolle dabei, immer verbunden mit der Frage: Wie würdest du das lösen? Was kann man hier tun, was muss dabei bedacht werden, wie ist das einzuordnen? Solche aktiven, spielerischen, aber eben das konkrete Berufsfeld schon ansprechende Themen sind sehr wichtig, und damit erreicht man junge Leute heute besser als mit abstrakten Ansätzen. Das galt eigentlich schon immer, aber heute, im digitalen Zeitalter, wird das besonders deutlich.
Wenn Sie heute Schüler wären: Hätten Sie Lust, mit dem Buch zu arbeiten?
Prof. Hurrelmann: Ja, ich hätte sogar große Lust. Denn ich finde das Buch außerordentlich gut gelungen. Es gibt einen Überblick über das gesamte Spektrum der modernen Gesundheitswissenschaften und bildet die fachliche Struktur gut ab. Es macht deutlich, dass in die Gesundheitswissenschaften viele Disziplinen eingehen, neben den medizinisch-naturwissenschaftlichen auch die sozialwissenschaftlichen, psychologischen, pflegerischen, ökonomischen und politischen Ansätze. Das Buch orientiert sich an einem modernen Public Health Ansatz, der den Berufen neben der Medizin eine klare und ebenbürtige Rolle zuschreibt.
Die erste Auflage ist kurz vor der Covid-19-Pandemie erschienen. Deswegen war es an der Zeit, eine 2. erweiterte und überarbeitete Auflage vom „Mensch im Fokus I“ vorzulegen. Was sind Ihre ersten Eindrücke der neuen Auflage?
Prof. Hurrelmann: Die intensive Nachfrage nach dem Buch in der ersten Auflage zeigt: Das zu Grunde liegende Konzept hat sich bewährt. Die wichtigste Zielgruppe sind Lehrende und Lernende der beruflichen Oberstufen Gesundheit, und sie sind ganz offensichtlich sehr zufrieden mit dem Aufbau der Bücher und den Inhalten. Aber auch die strukturierenden Elemente scheinen zu gefallen – vermutlich vor allem die vielen Lebensweltbezüge, Fallbeispiele und konkreten Aufgabenstellungen.
Der Verlag hat das erkannt und viel Aufwand und Energie in die zweite Auflage investiert. Es wurden nicht nur alle Zahlen, Daten und gesetzlichen Angaben aktualisiert, sondern auch viele gut durchdachte Erweiterungen vorgenommen. Das gilt besonders für die ausführlichen Informationen zur COVID-19-Pandemie und ihren Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung. Hier finden sich unter anderem Analysen zu den nationalen und internationalen Impfstrategien, zu den damit verbundenen ethischen Dilemmata wie Priorisierung, Triage, Zugang zu Impfstoffen und zum Dilemma von Prävention und Gesundheitsförderung während einer akuten Gesundheitskrise. Auch die gesellschaftliche Bedeutung der Pflege in Zeiten von Corona und der sich verschärfende Pflegenotstand werden differenziert behandelt. Das ist rundum gelungen, und es wird durch gute Begleitmaterialien ergänzt – etwa durch den eLöser und die LernBOX Gesundheit, eine Fachbegriffe-App. Besser kann man es nicht machen, und ich denke, das werden auch die Leserinnen und Leser so sehen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann wurde 1944 geboren und studierte Soziologie, Psychologie und Pädagogik in Berkeley, Münster und Freiburg. Er wurde 1975 zum Professor an der Universität Essen ernannt und wechselte 1979 an die Universität Bielefeld. Klaus Hurrelmann war dort von 1980 bis 1983 erster Dekan der Fakultät für Pädagogik und von 1994 an Gründungsdekan der ersten School of Public Health in Deutschland, der Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Seit 2009 arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
Klaus Hurrelmann hat, oft in Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen, zahlreiche Lehrbücher vorgelegt, darunter „Einführung in die Sozialisationstheorie“, „Lebensphase Jugend“, „Kindheit heute“, „Gesundheitssoziologie“ und umfangreiche Handbücher zu Sozialisationsforschung, Jugendforschung und Gesundheitswissenschaften.
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